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Orquesta Típica Osvaldo Pugliese


*02.12.1905 +25.07.1995

Status

Der "Schutzheilige"
Avantgarde

Aufnahmen:

rund 700

Kaufen:

 www.tangotunes.de stellt für die Zeit von 1943 bis 1947 die besten Transfers zur Verfügung. Zu Puglieses 100. Geburtstag erschien die ‚Edición Aniversario‘. Diese vier CDs bieten für wenig Geld eine gelungene Auswahl von 100 Stücken in guter Qualität.

Lektüre:

Michael Lavocah setzt mit seiner Monographie "Tango Masters - Osvaldo Pugliese" natürlich Maßstäbe.



Stil

dramatisch, subtil, sperrig, betörend, leidenschaftlich, widersprüchlich


Merkmale

Yum-Ba, extreme Wechsel in Tempo und Energie, in Anspannung und Entspannung

Wichtige Aufnahmen:

La Yumba, Negracha, Recuerdo, Pasionál

Wichtige Sänger:

Roberto Chanel (1943- 1948), näselnder Feingeist
Alberto Morán (1945 – 1954), frisch und gefühlvoll phrasierender Schwarm der Frauen

Jorge Maciel (1954 – 1968)
Abel Córdoba (1964 – 1995)

Bedeutende Musiker:

Bandoneon: Osvaldo Ruggiero, Emilio Balcarce
-    Geige: Enrique Camerano,






Einführung

Tango ist ein Baum, der immer Früchte tragen wird, denn er wächst und gedeiht auf fruchtbarem Boden: der Seele der Menschen. (Osvaldo Pugliese).

Seine Musik begeistert und verwirrt. Sie zählt zum Reichsten und Vielfältigsten innerhalb des Tango Argentino. In Argentinien verehrten manche ‚San Pugliese‘, der für sein Wohlwollen und seine Milde bekannt war, wie einen Heiligen. Pugliese und seine Musiker prägten über Jahrzehnte maßgeblich die Entwicklung des Tango und erlebten als einziges der großen Orchester den neuerlichen Tangoboom seit den 1980er-Jahren. Eine zum richtigen Zeitpunkt gespielte Pugliese-Tanda ist für viele Tänzer der Höhepunkt einer Milonga. Werfen wir einen Blick auf diesen außergewöhnlichen Menschen und seine Musik.





Die ersten Jahre

Aus einer armen, kleinbürgerlichen Musikerfamilie stammend, wuchs Osvaldo im Tango-Arbeiterviertel Villa Crespo inmitten von Fabriken und Conventillos auf. Schon im zarten Alter von neun Jahren erwachte seine Leidenschaft für das Klavier. Bald darauf unterstützte er das knappe Familienbudget nicht nur als Schuhputzer und Zeitungsjunge, sondern auch mit Pesos, die er in Cafés und Stummfilmkinos als Pianist verdiente. Wie viele seiner Generation genoss er wenig schulische Bildung und tauchte, noch halb Kind, als Musiker ins Nachtleben des Viertels ein.

Um 1921 finden wir den Teenager im Orchester der einzigen erfolgreichen Bandoneonistin, Paquita Bernardo. In männlichem Outfit mit Anzug und Krawatte sorgte sie für Aufsehen.
Pugliese bewunderte seine Vorbilder Juan Carlos Cobián und Francisco De Caro in den Cafés der Stadt und bildete sich in klassischer Musik und Komposition fort.
1922 ergatterte der 17-Jährige mit einem klassischen Ensemble einen Sendeplatz bei einem der gerade neu entstehenden Radiosender. Nur zwei Jahre später floss aus der Feder des nun 19-Jährigen eine der größten Kompositionen des Tango Argentino: Recuerdo.





Der Gewerkschafter

Bevor Pugliese 1939 sein berühmtes eigenes Orquesta Típica gründete, finden wir ihn als Pianisten bei Pedro Maffia, Pedro Laurenz (1934) und Miguel Caló (1936). Mehrere von ihm in den 30er-Jahren angestoßene Orchesterprojekte zusammen mit progressiven Musikern wie Vardaro, Gobbi oder Ciriaco Ortiz lösten sich bald wieder auf. Denn in den wirtschaftlich schwierigen Jahren nach 1930 überlebten viele Musiker nur mühsam und unter oft ausbeuterischen Bedingungen. Arbeitszeiten von 18.00 Uhr bis 6.00 Uhr am nächsten Morgen, meist nur unterbrochen von einer Essenspause, waren üblich, und das an sieben Wochentagen.

Argentinien und seine Regierungen waren meist unternehmerfreundlich, Präsident Yrigoyen ließ 1919 in der semana tragica  Arbeiterwiderständ von der Armee niederballern, 700 Menschen starben, 1920-1922 kostet ein Streik unter Farmarbeitern 1500 Menschen das Leben. Für Puglieses politische Einstellung prägend war aber der Militär-Putsch von 1930, der die decada infamia einleitete.

Doch Pugliese wurde aktiv. Er glaubte an die Kraft des Kollektivs und des gemeinsamen solidarischen Handelns. Daher gründete er eine Musikergewerkschaft, organisierte Streiks und erreichte Verbesserungen.

Von nun an war er ein ‚Aufwiegler‘. Arbeit fand sich noch schwerer. Osvaldo war ein konsequenter Mensch, der immer zu seinen Überzeugungen stand. Und so überrascht es nicht, dass er 1936, anlässlich des Spanischen Bürgerkriegs, in die kommunistische Partei eintrat.

Im selben Jahr heiratete er seine erste Frau Mariá Concepción Florio. Seine ihm sein Leben lang auch musikalisch eng verbundene Tochter Beba Pugliese ist noch heute als Tango-Musikerin aktiv.




Das Orchester

Nach vier gescheiterten Versuchen, mit eigenem Orchester anzutreten (1936, 1937, 2x1938) klappte es endlich 1939.
Nachdem er nur fünf Tage zuvor aus politischer Haft entlassen worden war, debütierte Pugliese im August 1939 im Café Nacional, damals bekannt als La Catedral del Tango. Sie spielten täglich von 13.00 bis 19.00 Uhr. es folgten Engagements in der Bar Germinal sowie in Puglieses Heimat-Barrio Villa Crespo. Überhaupt hatte die Band besonders viele Anhänger unter jungen Menschen aus der Arbeiterklasse. Diese Gangs (=barras) zogen auf den Pritschen von Lastwagen im Arbeiter-Sonntagsdress (=Zoot Suit) durch die Stadt, wobei Krawall mit anderen Barras nicht ausgeschlossen war. Eine der Barras bestand aus afro-argentinischen Frauen, ihnen widmete Pugliese Negracha.


Landesweite Bekanntheit brachte schließlich ein Sendeplatz bei Radio el Mundo.

Sänger dieser ersten Phase waren zunächt Amadeo Mandarino, der 1941 zu Troilo, wechselte, dann Augusto Gauthier. Er zog Ende 1943 zu José García weiter.


... ein Kollektiv

Pugliese war Kommunist, und so organisierte er zeitlebens seine Orchester als Kollektiv:
Die Bezahlung richtete sich nach einem Punktesystem. Prämiert wurden natürlich Auftritte, aber auch Komposition, Arrangement und Verweildauer. Punktabzug gab es z.B. für Unpünktlichkeit. Dies sicherte Qualität und Innovation und sprach herausragende Musiker an, die dem Orchester über Jahrzehnte treu blieben. So verdiente Osvaldo Ruggiero, wichtigster Bandoneonspieler, aufgrund seiner zahlreichen Kompositionen und Arrangements zeitweise mehr als der Maestro selbst.


...gemeinsames Arrangieren

Auch die Arbeit an der Musik erfolgte kollektiv. Neue Stücke wurden gemeinsam arrangiert, die Solisten brachten selbst Ideen ein. All das schweißte zusammen, sodass die Band auch Zeiten der politischen Verfolgung überstand.


...gemeinsam gegen die Diktatur

Der Maestro selbst saß wegen seiner kommunistischen Orientierung wiederholt monatelang im Gefängnis und wurde von den autoritären, rechtsgerichteten Militärjuntas immer wieder mit Auftritts- und Aufnahmeverboten belegt. Durfte Osvaldo selbst nicht auftreten, so erinnerte stets eine Rose auf dem Klavier an seine Abwesenheit, andere Musiker der Band übernahmen gelegentlich den Klavierpart. Oft genug musste auch die ganze Band vor der Polizei flüchten oder wurden als Schikane genau für die Zeit des Auftritts in Poizei-Gewahrsam genommen. Eines Abends verhandelte ein Veranstalter mit der Polizei und erreichte, dass diese erst nach dem Ende des nächsten Tangos zugreifen dürfe. Die eingeschworenen Musiker spielten daraufhin so lange La Cumparsita, bis die Polizei wieder abzog.

Nachdem Peron seine Macht ausbaute, waren bis 1948 unter anderem alle Radio-Stationen vom Staat übernommen worden., als Kommunist hatte Pugliese letztendlich bis 1953 mit Unterbrechungen, immer wieder Auftrittsverbote und war von allen Radiostationen gebannt. Die überschaubare Anzahl an Aufnahmen der Zeit sind allerdings beeindruckend intensiv, wie z.B. Patetico oder Negracha (1947) oder Malandraca und  Cananro en Paris (1949). Nur teilweise gelangen der Band Auftritte, manchmal nur ohne ihren Leiter und Pianisten San Pugliese.





Seit Beginn 1955 saß Pugliese schließlich für ein halbes Jahr als politischer Gefangener im Knast, hielt seine Finger durch Trockenübungen auf dem Tisch fit und wurde von seiner Frau täglich mit Essen versorgt, die wiederum, von der Nachbarschaft unterstützt wurde. San Pugliese war ein verehrter Mann.

Der erste Tango, den die Band nach seiner Freilassung aufnahm, trägt den programmatischen Titel Emancipación (1955) und diese wunderschönen Beats scheinen durch jede Phrase leisen Jubel rieseln zu lassen, der in der intensiven Variaçión kulminiert.


Die fünftägige, extrem demütigende Internierung auf einem Gefangenenschiff 1957 schwächte Pugliese so, dass Osvaldo Manzi und später Ernesto Romero als zweite Pianisten Teil der Band wurden.


Wie schwankend die politischen Verhältnisse waren, zeigt sich 1959: Einerseits musste er sich einige Monate im Untergrund verstecken, andererseits trat er Anfang Mai erstmals im Fernsehen auf.


Auch in den 70ern war Pugliese einige Jahre vom TV gebannt, erst ab 1980, der Tango war nur noch eine Randerscheinung, durfte Pugliese ohne Einschrängungen wieder auftreten.


Emancipación
Clarisa Aragon and Jonathan Saavedra - Stuttgart - 2018







Die Musik

Die ersten Jahre

Zwar startete das Orchester 1939, aber erst 1943 kam ein Plattenvertrag zustande, Michael Lavocah spürt der Genese hin zum Pugliese-Sound in diesen vier scheinbar undokumentierten Jahren anhand von erhaltenen Radio-Mitschnitten nach.

Anschließend dokumentieren die 74 Aufnahmen, die bis 1947 entstanden, die stetige Entwicklung und Reifung.

Repertoire und Struktur der Stücke folgten zunächst, weicher und weniger krass, der Tradition Julio De Caros.

Stücke aus der De Caro-Schule wie Mala Junta (1943), Tierra Querida, El Arranque, Amurado (1944), El Monito oder Tiny (1945) und Boedo (1948) bilden den Kern des Repertoires. Recuerdo, Adiós Bardí oder Las Marionetas, alles Kompositionen Puglieses, fügen sich hier ein. Aber auch El Taita oder Derecho Viejo (mit wilden, teilweise kaskadenartig fallenden Violin-Läufen) fügen sich zu diesen in ihrer Struktur noch einigermaßen klassischen, aber gleichzeitig im Arrangement sehr subtilen Tangos.

Auf dem Weg zu La Yumba

Mit La Yumba (1946), Negracha (1948) und Malandraca (1949) ging das Orchester dann ganz eigene Wege.

Extrem rhythmische, wie eine Maschine stampfende Passagen in Yum-Ba-Phrasierung, wechseln mit melodiösen, kaum mit Beat unterlegten Abschnitten oder legen sich übereinander. Ständig werden Spannung und Dramatik aufgebaut und wieder aufgelöst.

Von nun an war der lautmalerisch gebildete Yum-Ba Puglieses Markenzeichen.

Dabei spielt das Orchester den ersten und dritten Beat (Yum) extrem schwer, breit und wuchtig mit einem brachialen Arrastre (=kurz vor dem Beat anschwellende Intonation), während der zweite und vierte Beat (Ba) mit einem tief im Bass lauernden leichteren Grollen antwortet. Das ist die Wucht der Großstadt, das Stampfen einer Maschine, das Pulsieren der Straßen und Fabriken.


Der gereifte Stil

Pugliese entwickelte diesen Stil immer weiter. Nach 1950 verdichtet und intensiviert sich die Musik, Harsches, Attackierendes, Liebliches, Leises und Melodisches verflechten sich harmonischer ineinander.

In De Floreo (1950) werden der Wechsel, das Ineinanderfließen von Anspannung, Dramatik, ja Aggression mit weichen, luftigeren Passagen immer subtiler, die Harmonien komplexer.

Pastoral mit intensiver Variaçion lässt dabei mehr Luft für Melodien und kleine Soli, die ganze Klasse von Jorge Vidal strahlt in Puente Alsina (1951),

Alberto Moráns Hits sind unter anderem Cobardía (1950), Pasional oder noch feiner, Barro (1951). Höhepunkte für Tanzende sind La Tupungatina (1952) und Chiqué (1953),

Polyrhythmische und polyphone Strukturen

Pugliese und seine Musiker schichteten Klanggruppen und Rhythmusmuster übereinander und ineinander und überwanden immer mehr das für den Tango typische Bauprinzip.


Seit Mitte der Fünfziger entstehen strahlende, leuchtende, satte, immer noch gut tanzbare Tangos, die teilweise zu viel gespielt sind, wie die Instrumentalen Nuevo de Julio, Gallo Ciego, Emancipación, Zum, Pata Ancha, Nochero Soy, aber auch großartige Vokalstücke mit Maciél, allen voran Remembranza, El Pañuelito sowie das noch intensivere El Adiós.

Aber auch Piazzollas Verano Porteno (1966) oder Zum (1973, grandios) verwandelt das Orchester in Tanzbares.


Spielen ohne Noten

In Notenform lässt sich der Charakter dieser Musik oft nicht notieren. Die Rubatos, also Verzögerungen und Beschleunigungen, wie auch der ständige Wechsel in der Dynamik, also der Lautstärke, gelangen nur, weil die wichtigsten Musiker jahrzehntelang intensiv gemeinsam spielten und lange und intensivst probten, denn Pugliese bestand darauf, dass auf der Bühne ohne Noten gespielt wurde.

Vorbild Pugliese

Die meisten bekannten Orchester der 80er- und 90er-Jahre, so z.B. das Sexteto Mayor oder Color Tango, orientierten sich in ihrer Spielweise an Pugliese, erreichten aber selten dessen Tiefe und Reife. Pugliese war eben Perfektionist, seine Musiker berichten, dass sie oft Stunden an einer einzigen Phrase arbeiteten.



Ein neues Plattenlabel

1960 versuchte Pugliese selbst eine Plattenfirma zu gründen, als national eingestellter Kommunist wollte er von den "imperialistisch-kapitalistischen" RCA-Victor und Odeon unabhängig sein.

Das Projekt scheiterte, weil die Räume mitsamt der Aufnahme-Master von der Geheimpolizei im selben Jahr zerstört wurden.

Pugliese wechselte zu Polygram (Philips), deren Sound brillanter, aber auch leicht mit Hall versetzt ist.
Beeindruckend ist, dass das Orchester, obwohl Tango kaum noch Bedeutung hatte, erfolgreich weiter aufnahm und sich musikalisch durchaus noch weiterentwickelte.


Verano Porteño (1966)
Cécile Rouanne et Rémi Esterle - Gent 2017
Eine unbeschreibliche Chorographie, Cécile ist Choregraphien, das verschafft dieser Interpretation eine andere Dimension



Tierra Querida

Cecilia Acosta and Levan Gomelauri - Berlin 2020



Negracha
Gianpiero Galdi & Lorena Tarantino - Krakus Aires Tango Festival 2019



Malandraca
Jonathan Saavedra and Clarisa Aragon - Lodz - 2016



A mis compañeros
Fausto Carpino y Stephanie Fesneau - Belgrade Tango Encuentro 2017 -



Pasional (1952 - Moran)

Cecilia Piccini & Dominic Bridge - 2015


Quejumbroso
Silvina Tse and Michael Nadtochi – Quejumbroso – Kiev 2021



Nueve de Julio
Moira Castellano y Javier Rodriguez - Tango Salta Festival (2019)



El Adiós
Juan Cantone and Sol Orozco - San Francisco - 2012




Gallo Ciego
Javier Rodrigues & Moira Castellano - NZTF 2017







Die Musiker

Von 1939 bis 1958 bildeten Osvaldo Ruggiero, Enrique Camerano und Ancieto Rossi zusammen mit Pugliese den harten Kern der Truppe.


Osvaldo Pugliese

In Puglieses Klavierspiel spiegelt sich sein Wesen: Er drängte sich mit seinen Fähigkeiten nie in den Vordergrund, ließ seinen Musikern viel Raum – aber alles, was er spielte, war wesentlich. Als kleiner, zierlicher Mensch rührte er die Menschen mit seinem einfühlsamen Spiel, konnte aber auch mit beeindruckend brachialer Gewalt ausdauernd die tiefen Yum-Ba-Akkorde ins Klavier hämmern, die so entscheidend für die wuchtig stampfenden Partien des Puglieses.Klangerlebnisses sind.


Osvaldo Ruggiero

Osvaldo, autodidaktischer Bandoneon-Virtuose, war erst 17 Jahre alt, als er 1939 in das Orchester eintrat. Sein Stil trug wesentlich zur Entwicklung des Pugliese-Sounds bei. Mitte der 40er sprach man vom Orchester der beiden Osvaldos. Viele Kompositionen und Arrangements gehen auf ihn zurück. Gemeinsam mit Jorge Caldara leitete er musikalisch, energisch und manchmal wild die langen Haare schleudernd die fila de banondeón, sodass die Fans (jedes Orchester hatte damals seine barra, seine Gang) durchdrehten. Sein Stil lebte von Dynamik, Überraschung, Wechsel zwischen Lieblichem und Rauhem, er wechselte mühelos zwischen rechter und linker Hand und damit zwischen den Registern des Bandoneons.


Jorge Caldara (1924-1967)

komponierte Patético (1948), Pastoral (1950) und Pasional” (1951) und verließ nach 10 Jahren wegend politischem Druck und Angst vor der Diktatur 1954 das Orchester, leitete für ein Jahr in Japan das Begleit-Orchester der japanischen Star-Stimme Ranko Fujisawa, um 1956 mit eigenem Orchester im Pugliese-Stil weiterzumachen. Der Spannungsaufbau von El Guri (1959) hin zu einer unvergleichlichen Variaçion ist grandios.


Enrique Camerano (1939-1958)

Geige, trug den Spitznamen El Gitano – der Zigeuner.
Er verfügte über einen fantastischen Ton in allen Lagen. Er spielte weich und melodisch, hatte ein wunderbares Vibrato und eine so versierte Bogentechnik, dass er jeden einzelnen Ton mit einer eigenen Betonung phrasieren konnte.
Der anspruchsvolle, komplexe, abwechslungsreiche Stil Puglieses verlangte entsprechende Musiker, ihnen musste das Liebliche und Lyrische genauso locker vom Bogen springen wie attackierende, aggressive Sounds, nur so konnten die vielfältigen Spannungen und Gegensätze aufgebaut werden.

Emilio Balcarce (1918 - 2011)

1947 verließ Jaime Tursky,  der Organisator, Sprecher und Geiger, der von Anfang an dabei war, und nicht nur die ersten Auftritte einfädelte, das Kollektiv.

Balcarce ersetzte ihn und blieb über 20 Jahre.

Sein Name steht zwar nicht an erster Stelle der Tango-Welt, er prägte diese aber vielfältig als Geiger, Pianist, Komponist, Orchesterleiter, Arrangeur und Ausbilder einer neuen Generation von Musikerïnnen seit der Jahrtausenwende.

Nach seiner Zeit als Geiger bei Edgardo Donato um 1940 leitete er die "Begleitorchester" der großen Solisten der Vierziger, Alberto Castillo bzw. Alberto Marino, arrangierte u.a. für Troilo, Francini-Pontier, Basso und natürlich auch für Pugliese. Sein gesammeltes Tango-Wissen und Gefühl verdichtete er in herausragenden Kompositionen wie La Bordona (Pugliese, 1959) oder Bien Compadre (1949) und gab es, seit 2000, angeregt durch Ignacio Verchausky, in zweijährigen Kursen als Leiter und Dirigent des Orquesta Escuela de Tango anhand von Original-Partituren und unterstützt von noch lebenden Größen wie Julián Plaza, Ernesto Franco, Horacio Salgán, Leopoldo Federico, Néstor Marconi, José Libertella, Atilio Stampone, Rodolfo Mederos oder Raúl Garello an die junge Generation von Musikern der aktuellen Tango-Welle weiter.




Die Sänger


Roberto Chanel (1943-1947),

lang, dünn, mit riesiger Nase, was ihm den Spitznamen ‚El Turco‘ (der Araber) einbrachte, war wenig attraktiv. Doch mit seinem filigranen, etwas näselnden Gesang, den er zu Hause mit der Gitarre an seinem Vorbild Gardel schulte, schlug er die Menschen in seinen Bann. Ich mag seine Stimme nicht so gerne.
Wichtige Tangos sind Farol, Muchachos comienza la ronda,(1943), Corrientes y Esmeralda (1944), oder El Mareo (1947, im Duo mit Morán)


Alberto Morán (1945 - 1954)

konnte, als er im Januar 1945 mit 23 Jahren im Orchester begann, nicht nur wunderbar singen. Er war auch ein Womanizer, der alle Emotionen der von ihm gesungenen Texte beim Singen dramatisch miterlebte, wofür ihn die Frauen liebten. In einer Zeit, in der die Sänger oft das entscheidende Standbein für den richtig großen Durchbruch waren, war es allerhöchste Zeit für eine Stimme wie Morán. Das Orchester gewann durch ihn viele neue Fans, im folgenden Karneval finden wir die Band dann nicht mehr in den Vororten, sondern im Club Huracán, einem der größten Fußballclubs der Stadt.

1954 verließ Morán, nicht ganz im Frieden, San Pugliese, der sehr viel, vielleicht zu viel von seinem Sänger verlangt hatte. Morán startete seine Solo-Karriere, Armando Cupo leitete das dafür zusammengestellte Ensemble, von den 46 Aufnahmen gefallen vor allem die Valses Quema esas cartas und Yo no se que me han echo tus ojos.

Jorge Vidal - Der zweite Gardel (1949-1951)

Nach dem Tod Gardels wurde so manche Stimme als der zweite Gardel gehandelt, Vidal ist eine davon.

Puglieses Musiker entdeckten ihn in einer Bar, wo er 24/7 begleitet von Gitarren sang. Seine ehrliche, kräftige Stimme betört, nach zwei Jahren bevorzugte Vidal wieder, wie Gardel, die Interpretationsfreiheit, zu Gitarren zu singen und verließ die Band. Sein grö´ßter Hit ist sicher Puenta Alesina, noch tanzbarer ist der im Duett mit Moran gesungene Vals  Tu vieja ventana.


Jorge Maciel (1954-1968)

Pugliese warb ihn von Alfredo Gobbi ab. Maciel zählt sicher zu den reifsten, technisch strahlendsten Stimmen, er passt perfekt zu den subtilen Ansprüchen des Pugliese-Sounds und hinterließ Perlen wie Remembranza (1956) oder Cascabelito (1955).


Miguel Montero (1954 - 1959)

hatte keinen leichten Start, schaffte aber den Durchbruch mit Antiguo reloj de cobre (1955).
Die ganze Agonie der in den 1950ern sich immer weiter im Rückzug befindlichen Tango-Kultur verdichtet sich in Monteros Tango  Qué te pasa Buenos Aires? (1956)

1959 machte er als Solo Sänger weiter und war bis zu seinem Tod 1973 mit den Großen der 1960er wie José Libertella (Gründer des Sexteto Mayor), Eduardo Corti (Mitbegründer des Salamanca-Orchesters), Aquiles Roggero, Armando Cupo, Ángel Domínguez, Miguel Caló und Mariano Mores unterwegs


Abel Cordoba

setzte sich 1964 in einem gigantischen Casting gegen 300 anderen Kandidaten durch und begleitete Pugliese über 31 Jahre bis zu den letzten Auftritten 1995.





Die späten Jahre


Sexteto Tango

Krank und müde musste sich Pugliese 1968 zurückziehen. Er empfahl seinen besten Leuten, sich zwischenzeitlich als Sextett durchzuschlagen.

Doch ihr Erfolg war so groß, dass seine jahrelangen Gefährten sich schließlich selbstständig machten. Julián Plaza legte dafür sein Bandoneon zur Seite und übernahm den Klavierpart.

Pugliese stellte in der Folge mit Unterstützung seiner Tochter ein neues Orchester auf die Beine. Und es klang wieder grandios.


Das Konzert im Teatro Colón

Das Teatro Colón war und ist der Musen-Tempel von Buenos Aires, Treffpunkt der Upper Class, Veranstaltungsort der Hochkultur, vergleichbar mit der Carnegie Hall in New York oder der Mailänder Scala.

So war es natürlich eine finale Genugtuung für den jahrzehntelang geächteten Kommunisten, dass er anlässlich seines 80. Geburtstags in den heiligen Hallen ein Konzert geben durfte, das dann, Witz der Geschichte, wegen eines von der Gewerkschaft organisierten Streiks um eine Woche verschoben werden musste. Die 3.500 Tickets waren jedenfalls binnen eines Tages verkauft, letztendlich drängten 5.000 Menschen in den Konzertsaal, um den Meister zu feiern. Noch heute rühren die Bilder und die Musik (Youtube) zutiefst und zeugen von Größe und Zurückhaltung des Menschen und Musikers Osvaldo Pugliese.

Tourneen

Musik verbindet, davon war San Osvaldo überzeugt.
Neben vielen Tourneen durch die Provinzen Argentiniens finden wir Pugliese auch viel im Ausland:

SU und China 1959

 1959 tourte das Orchester vier Monate durch die kommunistischen Länder UdSSR (80 Städte, bis zu drei Shows täglich) und China (28 Städte) vor bis zu 50.000 Menschen (Fußballstadion, Armenien). Die Konfrontatin der Kommunisten der Band (Pugliese, Spitalnik) mit dem realen Sozialismus sorgte für viel Gesprächsstoff in der Band.

Japan 1964 und 1979

Die Japaner waren 1964 so begeistert, dass aus den 45 geplanten Shows 135 wurden.
1979 brach das Orchester zur zweiten Tournee nach Japan mit 79 Konzerten auf, die Walzer-Begeisterung der Japaner führte zum legendären Arrangement von Desde el Alma. (1979)


Weltweite Renaissance des Tango in den 80ern und 90ern

Aufgrund der politischen Entspannung in Argentinien und des neu entflammten Interesses am Tango in den 80er-Jahren ging das Orchester und mit ihm der über 80-jährige Maestro regelmäßig auf Reisen.
1980 zog das Orchester unter großem Jubel durch Südamerika und wurde in Kolumbien direkt vom Präsidenten begrüßt und feierten unter anderem in Kuba (1984), China, Japan(1989), Chile(1990), Frankreich (1984), Spanien (1985), oder den Niederlanden große Erfolge.




Locura Tangera (1966)
Ein wilder Tango, eine intensive Choreographie
Lorena Tarantino and Gianpiero Galdi - Halle, 2019





Die Person

Pugliese war für seine Bescheidenheit berühmt. Er liebte die Menschen, aber für seine Überzeugungen, und dazu zählte natürlich seine Musik, trat er mit absoluter Konsequenz ein. Seine Proben waren oft intensiv, teilweise agierte er streng, war aber oft auch sehr witzig. Und jedem Bandmitglied war klar: Ein Verlassen des Orchesters war endgültig, ein Zurück gab es nicht. Dies galt auch für die Musiker des Sexteto Tango, die über Jahrzehnte mit Pugliese alle Erfolge, aber auch alle Verfolgungen geteilt hatten.

Puglieses erste Frau Maria Conceptión verstarb 1971, mit ihr zusammen hatte er die Tochter Beba, die Pugliese vor allem seit den 70ern bei der musikalischen Arbeit unterstützte.

Die zweite große Partnerin war Lydia Elmann, die Pugliese seit 1949 kannte, und die bis zu seinem Tod an seiner Seite stand.
Truco, ein dem Poker ähnliches argentinisches Kartenspiel (siehe auch hier), zockte Osvaldo immer wieder mit großer Leidenschaft, Ausdauer und frech bluffend.


Der Komponist - Recuerdo

Den Pugliese-Sound der ersten Jahre prägte Osvaldo mit den drei emblematischen Tangos La Yumba, Negracha und Malandraca, die das Gegeneinanderdrängen des stampfenden Beats und der filgranen Melodielinien immer weiter auf die Spitze treiben. Mir sind diese Tangos, genauso wie z.B. Flor de Tango zu harsch und zu kantig.

Wichtige Kompositionen Puglises sind El Encopao, Recién sowie das herausragende


Recuerdo

Schon mit 15 ersann Osvaldo die charakteristische Eingangsmelodie. Fünf Jahre später veröffentlichte der Vater das Meisterstück unter seinem Namen, Osvaldo war noch minderjährig. Recuerdo mit seinem einzigartigen musikalischen Reichtum wurde ein großer Hit – und Pugliese ein berühmter Mann, vor allem weil Recuerdo in den Händen des Avantgarde-Sextetts von Julio De Caro seine Kraft entfaltete. Aus Dankbarkeit übernahm Pugliese 1944, fast 20 Jahre später, De Caros Arrangement fast unverändert für seine erste und wohl auch beste von drei Einspielungen. Dutzende Orchester ließen und lassen sich von den vielschichtigen Melodien, Harmonien und rhythmischen Spielereien zu herausragenden Versionen inspirieren. Darunter finden sich traditionelle vom Orquesta Típica Victor (1930), experimentelle von Horacio Salgán (1950), dramatische von Color Tango (2007) oder romantische Versionen mit Gesang von Osvaldo selbst (1966, voc: Jorge Maciel) oder, für mich am herausragendsten, von Fulvio Salamanca (1959, voc: Armando Guerrico und Luis Correa)


Der Heilige

Sein Leben lang war San Osvaldo wegen seiner politischen Einstellung verfolgt worden, hatte aber nie seine Ideale verraten. Dazu gehörte Mut angesichts der willkürlichen Verfolgungen und den zehntausenden von Menschen, die während der Zeit der Militärdiktatur in Argentinien oft spurlos verschwanden. „Achte auf deine Hände“, warnten ihn seine Freunde immer wieder, angesichts der alltäglichen Folter keine unbegründete Sorge.

Weil er trotz seiner aufrechten Haltung die Repressalien schadlos überlebte, sahen die Menschen in ihm einen Glücksbringer und Schutzengel, San Pugliese eben. Michael Lavocah schreibt, dass Musiker in Argentinien sich mit „Pugliese!, Pugliese!, Pugliese!“ Glück für den Auftritt wünschen und seit den 80ern immer wieder Heiligenkarten gedruckt wurden, die Pugliese als Schutzheiligen der Musiker darstellen.


Das Ende

Pugliese litt zunehmend unter seinem schlechten Gehör, viel mehr aber noch darunter, dass so viele seiner alten Freunde und Weggefährten nicht mehr lebten. Er verstarb 1995 in Buenos Aires, begleitet von seiner zweiten Frau Lydia. Die halbe Stadt nahm, während La Yumba gespielt wurde, Abschied. Denkmäler wie auch eine nach ihm benannte Metro-Station halten die Erinnerung an diesen großen Menschen lebendig.



Pugliese für Tänzer


Puglieses Schaffen schlug sich in knapp 700 Aufnahmen aus fünf Jahrzehnten nieder, die den Tanzenden immer ein gewisses, meist aber ein großes Maß an Interpretationsmöglichkeiten bieten, aber auch abverlangen. Puglieses Repertoire bestand vorwiegend aus Tangos.


Valses


Dass Pugliese seine Fans mit äußerst feinen, anspruchsvollen, ungewöhnlichen und lyrisch zu tanzenden Valses begeistert kann, zeigt eine Tanda mit dem Sänger Alberto Morán bestehend aus Ilusión Marina (1947), Dos que se aman (1948) oder La noche que me esperes (1952).


Das legendäre Desde el Alma (1979)
lässt Herzen schmelzen - und dieses Paar auch!
Simone Facchini & Gioia Abballe - Italien - 2018



La noche que me esperes (1952)

Clarisa Aragon and Jonathan Saavedra - Stuttgart - 2018







Instrumentale der Vierziger

In den Händen des Orchesters erblühten Julio de Caros Instrumentalklassiker neu. Pugliese interpretiert sie weniger scharf, feiner und mit stetigerem Beat. Hierzu zählen Mala Junta (1943), Tierra Querida (1944), El Monito, Boedo (1948-eine Hymne auf de Caros Heimatstadt) oder Chuzas (1949). Dazu gesellen sich Puglieses Komposition Recuerdo (1944) sowie das absolute Ausnahmestück La Tupungatina (1952).


Hits mit dem Sänger Roberto Chanel

wie Farol (1943), Corrientes y Esmeralda (1944) oder Rondando tu esquina (1945) enthalten zwar schon viele der für Pugliese typischen musikalischen Elemente, sie entsprechen aber ebenso noch dem für gesungene Tangos üblichen Muster wie


Alberto Moráns Perlen

Yuyo verde (1945), El Abrojito (1945) Quiero verte una vez más oder das grandiose Una vez (1946) mit einer magischen Rhythmisierung des Compás in Sechzehntelnoten, sowie Sin Palabras (1947).



Recuerdo
Noelia Hurtado and Carlitos Espinoza - 2018 - Belgrad



Mala Junta
Sabrina Masso and Federico Naveira - San Francisco - 2018



Una Vez
Noelia Hurtado and Gaston Torelli  - Berlin 2018




Reifes und Spätes

Puglieses Werk ist zu umfangreich, um seine Vielfältigkeit hier auch nur anzudeuten.
Hören Sie z.B. Patético (1948), De Floreo, Canaro en París (1949) mit einem sensibel gespielten Bass-Solo, Cascabelito (1955) und Remembranza (1956), gefühlvoll interpretiert vom großen Jorge Maciel oder die Klassiker Nochero Soy (1956), La Mariposa (1966) oder Zum (1973). Gallo ciego (1959), wurde vor 2000 berühmt als Show-Nummer von Ricardo und Nicole.
(Siehe auch "Die Musik")


Yunta de Oro
Dante Sanchez & Indira Hiayes - Istanbul 2019



ZUM
Chicho" Mariano Frumboli & Lucia Mazer - OsterTango 2000 - Basel




Ojos Negros - 1972
Clarisa Aragon and Jonathan Saavedra


La Tupungatina
Natalia Cristobal Rivé & Jérémy Braitbart - Paris Octobre 2012



De Floreo
Javier Rodriguez & Fatima Vitale – Sunderland 2015



Pata Ancha
Yanina Quiñones and Neri Piliu -  Istanbul 2016



La Rayuela (1953)
Clarisa & Jonathan