Tango Masters: Carlos di SarliMichael Lavocah
Lavocah beginnt, und das ist ganz typisch für ihn, mit
dem Offensichtlichen: Eine erste Geschichte erzählt vom
Unfall in der Jugend, bei dem ein Gewehrschuss Di Sarlis
Augen so verletzt, dass er fortan immer Sonnenbrille
trägt. Die Geschichte hat Bedeutung. Denn Di Sarli
verbirgt zeitlebens nicht nur seine Augen, auch seine
Person umgibt stets etwas Unnahbares. Auf diese erste, optische Annäherung folgt eine
musikalische anhand von Di Sarlis vollendetem Spätwerk
Bahía Blanca. Geschickt verknüpft Lavocah die
Pazifikwellen, die am Strand von Di Sarlis Heimatstadt
Bahía Blanca anbranden, mit den für Di Sarli so typischen
melodiösen Wellen der Violinen, die das magische
Klavierspiel des Señor del Tango einrahmen. Die Ouvertüre
ist gespielt, der Leser weiß nun, worauf es bei Di Sarli
ankommt, weiß, wo er auf den nächsten gut 200 Seiten
hinhören muss. Am Ende der Kapitel präsentiert Lavocah ausgewählte wegweisende Tangos. Neben Informationen zum Text, Geschichten zu den Tango-Poeten oder den beteiligten Musikern liefert er Höranleitungen und musikalische Analysen. In diesen intimen Auseinandersetzungen mit einzelnen Titeln überschlägt sich seine Begeisterung und Leidenschaft, die Superlative purzeln nur so auf die musikalischen Schätze. Dass in diesen Abschnitten so manche Wiederholung auftritt, liegt auch daran, dass die Monografie hier eher den Charakter eines Handbuches oder Nachschlagewerkes hat. Während man die biografischen Abschnitte auf einen Satz einsaugt, wird man Tiefe und Aussagekraft dieser mit so vielen netten Details angereicherten Songanalysen eher auf einer zweiten oder dritten Reise durch das Buch richtig genießen. Auch in den folgenden Abschnitten, dazu zählen ein Neustart des Orchesters zu Beginn der 50er beim neuen argentinischen Label Music Hall, oder die Zeit der späten Klassiker nach 1954 bis zu Di Sarlis durch Krebs verursachtem Tod Ende der 50er Jahre, lässt Lavocah neben dem Meister auch Sänger und Musiker lebendig werden, obwohl diesen eine weniger prominente Rolle zukommt als in anderen Orchestern. Denn, das hebt Lavocah immer wieder hervor, es ist das Klavierspiel von Di Sarli, dass dieses Orchester so einmalig macht. Gut gefällt mir, wie Lavocah in diesen Kapiteln die musikalische Entwicklung mit der oft schwierigen geschichtlichen Situation Argentiniens verknüpft. Der umfangreiche Anhang umfasst unter anderem eine Liste
wegweisender Tangos, CD-Empfehlungen, eine vollständige
Diskographie sowie eine Übersicht über die Musiker der
einzelnen Orchester. Aufbau und Layout setzt Lavocah fort, wofür er in den
ersten beiden wegweisenden Bänden der Serie, die sich mit
Aníbal Troilo bzw. Osvaldo Pugliese beschäftigen, den
Grundstein gelegt hat. Wohl niemand recherchiert aktuell
so konsequent und präsentiert das Auffindbare dann in
lockeren, schlüssigen Geschichten in mal sachlichem, mal
persönlichem, mal engagiertem Ton. |