Die Leben der Anderenvon Olli Eyding - Herbst 2017
Knappe Texte, die sich für die Lokalzeitung eigneten, die
Abschiedsfeier im Betrieb oder die Internetseite des
Vereins. So hatte sie Kontrolle über die Leben der Anderen. Sie saß meist in einer Ecke und beobachte. Eher selten
führte ein Cabeceo zur Verabredung einer Tanda mit den
Anderen, von denen sie wenig wusste. Sie unterhielt sich
nicht gerne. Aber trotzdem kannte sie die Leben der Anderen. Sie
konnte ja alles in ihrem Tanzen lesen. Schon in der ersten
Schnupperstunde sah sie in den unbeholfenen, staksenden,
gewollten Schritten der Kursteilnehmer deren Schicksale. Und Hugo, der Argentinier, der schon vor Jahrzehnten in
ihrer Stadt gestrandet war, bestätigte sie:
In den ersten Jahren folgte sie einfach ihrer Intuition.
Es war ja offensichtlich, dass der milchgesichtige
Mittfünfziger, der wie ein schlecht computeranimiertes
Marshmallow-Männchen gleichförmig seine Dame manövrierte,
sich seinen Speck irgendwo in der mittleren
Beamtenlaufbahn angefressen hatte. ... Dass ihn seine
Frau nach zwanzig Jahren Ehe verlassen hatte, belastete
ihn lange ... Oder die Sekretärin: Gute Fußtechnik,
großes Schrittrepertoire, aber alles wirkte immer so
glatt, alle Schritte immer gleich groß, gleich schnell.
... Sie war überall beliebt, benahm sich immer
angemessen, besuchte wöchentlich das Fitnessstudio, ...
, hinterließ keine Spuren, ...
Bei Promille-Paula, die, wie jeder sofort roch, selbst
für die monatliche Nachmittagsmilonga zu Hause vortrank,
zögerte sie zunächst. Paula schlängelte ihren dünnen, in
schwarze Spitze gehüllten Arm mit betonter Leidenschaft
über die Schulter ihres Tänzers und stürzte sich auf jeden
Führungsimpuls, der irgendwie in einer spektakulären Pose
enden könnte. Immer trug Paula ein knappes, schwarzes
Reißverschlusskleid, das viel Haut entblößte. Zunächst
schwankte sie zwischen Kunst- oder Yoga-Lehrerin. Doch
dann öffnete ihr eines Nachts ein Traum die Augen. Sofort
hastete sie zum Rechner, fiebrig hämmerten ihre Finger: ...
brach sie 1988 ihr Kunststudium erfolglos ab, Seminare
für Eurythmie und Freies Tanzen in einer Landkommune,
unstetes Leben als Kunsthandwerkerin auf
Esoterikmärkten, erbte das Elternhaus in der Kleinstadt,
starb einsam ...
Dem jungen schlanken Tänzer mit zum akkuraten Scheitel
gegelten Haaren und perfekter Technik folgten ihre Blicke
gerne. Seine in anthrazitfarbene Bundfaltenhosen
gehüllten Beine hackten reihenweise Sacadas in die
Moulinetten der Tangueras, so wie ein Messerwerfer scharfe
Klingen zwischen den Gliedmaßen der auf einer Scheibe
rotierenden Partnerin platziert. Er trat in die
Fußstapfen seines früh verstorbenen Vaters..., führte
die Arztpraxis weiter, ... , glücklich verheiratet mit
seiner Jugendfreundin, tragischer früher Tod beim
Gleitschirmfliegen... hatte sie ohne zu zögern in
die Datei Schnösel getippt.
Aufgefordert wurde sie. Führende fühlten sich von ihren Ochos, die sie mit einem
leichten Nachschwingen der Hüfte tanzte, inspiriert. Eine
intensive Tanda mit ihr hinerließ bei den Tangueros aber
oft den schalen Eindruck, eigentlich gar nicht selbst
geführt zu haben, ja sie fühlten sich fast ein wenig
unterworfen. Einer glaubte, in ihrer Art, wie sie Führung
und Musik interpretierte, eine gewisse Ironie zu erkennen.
Weil er oft wie ein Ertrinkender rudernd mit den Armen
führte und seine schwankende Achse selten unter Kontrolle
bekam, hatte sie seinen Nachruf unter dem Namen Schilf
abgespeichert.
Die Szene ihrer Stadt war übersichtlich. Dennoch hortete
sie bald über 100 Seelen. Sie verlor den Überblick. Die
Frauen unterteilte sie daher in Anfängerin, Konkurrentin,
Vorbild, die Männer in inspirierend, erträglich, Zumutung.
Als sie entdeckte, dass sie sich mit dieser etwas plumpen
Zuordnung auf eine Ebene mit den Anderen begab, nahm sie
wieder Abstand davon.
Im Laufe der Jahre musste sie die Art, wie sie die
Anderen in ihrem Tanzen erkannte, verfeinern. Denn auch
die Tänzer ihrer kleinen Stadt fuhren auf Festivals,
Encuentros oder Marathons und profitierten von den jungen,
argentinischen Paaren, die selbst hier in der Provinz
Wochenendworkshops gaben. Das offensichtlich
Charakteristische, die Unbeholfenheit, das manchmal
Steife, manchmal Gewollte und Unkontrollierte war
konformeren, eleganteren Bewegungen gewichen. Doch mit
ihren vor dem Spiegel trainierten Enrosques, mit ihrer
krampfhaften Suche nach eleganten Füßen, mit ihrem
Streben, die heilige Tangomusik möglichst authentisch zu
interpretieren, entblößten sich die Anderen umso mehr vor
ihr. Auch den Neuen, einen muskulösen, etwas gedrungenen Glatzkopf, ihr fiel als Dateiname sofort Arjen Robben ein, der gerade rücksichtslos der Sekretärin eine erst letzte Woche gelernte rhythmische Verdopplung aufzwang, hatte sie schon verbal in einem Nachruf erledigt ... mit großem Einsatz im Vorstand seines Vereins, ... Motorradfan, seinen Freunden immer eine große Hilfe, ... , seine hübsche erste Ehefrau ging mit den fünfjährigen Zwillingstöchtern zurück nach Italien ...
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Da fällt ihr Blick auf Stefan. Als einzigen hatte sie ihn bis jetzt nicht mit Wörtern bezwingen können. Sie tanzt selten mit ihm. Sie mag seinen Geruch, seinen gepflegten Körper, seine Umarmung, seine eindeutige, immer präzise Führung. Gerne spürt sie seine feinfühligen Hände auf ihrer Haut. Aber in der schnellen Abfolge präziser Schrittkombinationen, durch die er sie mit perfekter Technik jagt, findet sie nie Platz, die Melodien, die sie so liebt, mit all ihrer Weiblichkeit zu leben. ... Vielleicht ist das der Grund, warum sie mit Stefan bis heute noch nicht zusammengezogen ist. |
Illustrationenvon der wunderbaren Künstlerin Ulrike Schrammeckaus Gröbenzell bei München
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