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Echt!

von Olli Eyding - Herbst 2024

 

Anna-Luna schaute sich, heute emotional nicht ganz das optimale Level erreichend, beim Tanzen zu.

Dann wandte sie sich philosophierend an ihre Freundin Marie-Sophie, die neben ihr im Backroom der Milonga saß:

 

Mit Zwanzig tanzten wir frisch und unbedarft wie Rehe, mit Dreißig vollendet mit eleganter Technik und der Kraft junger Körper.
Mit Vierzig gelang es uns gut, die kleinen Schmerzstellen und Ungenügsamkeiten mit Souveränität zu kaschieren.
Mit Fünfzig hielten wir noch mit.
Mit Sechzig war es mühsam.
Und dann waren ja zum Glück die Avatare, vor allem aber auch die Emotion-Transmitter so weit ausgereift, dass wir unsere Knorpel nicht mehr selbst traktieren mussten, um Tangasmen zu erleben

 

Marie-Sophie, deren Avatar sich im Ballroom einer etwas aufdringlichen Führung emotional ungebremst hingegeben hatte, brauchte einige Zeit, um sich aus ihrer Erregtheit zu lösen, obwohl sie die Response-Rate ihres Transmitters sofort heruntergeregelt hatte.

 

Anna-Luna, ich hatte dich gewarnt. So wie du die KI deines Avatars heute gepromptet hattest, konntest du nicht fullfilled werden.
Da war viel zu viel Schönheit und Perfektion im Spiel, die Energie-Rate und der Hingebungs-Amount sind doch genauso wichtig. Aber das war ja schon immer dein Problem: Deine Appearance, dein perfekter Ocho, deine Fußarbeit waren dir schon immer viel wichtiger als die Energy im Paar.

Die Tanda endete.


Beide transmitteten einen Cabeceo-Break.

 

Anna-Luna spürte, wie sich wieder einmal eine depressive Welle in ihr aufbaute. Ein Blick auf ihren Body-Controller gab ihr recht:
Serotonin und Adrenalin waren unten.
Da ihr rezeptfreies Kontingent noch nicht aufgebraucht war, aktivierte sie die Hormon-Pumpe. Doch es war zu spät. Schnell entkoppelte sie sich emotional von ihrem Avatar, damit dieser für heute nicht unbrauchbar wurde. Doch ihre negativen Gedanken konnte sie nicht mehr stoppen.

 

Was ist denn noch echt an mir?
Es begann ja harmlos.
Ein bisschen Botox hier, ein wenig Hyaluron da, aber mein Lächeln war noch meins.
Das Brüste Heben in Tschechien klappte zum Glück komplikationslos. Jeden Tangofummel konnte ich braless tragen. Die waren der Hingucker – und sind heute noch das Beste an mir. Der Rest hängt jetzt doch schon sehr rum, sieht man von den Wangen ab. Und die sind so stabil, dass ich meinen Avatar für mich Lächeln lassen muss,

ergänzte sie sarkastisch.

 

Bis zu den fünf künstlichen Gelenken, den gelifteten Schlabberarmen, dem Body-Controller-Chip, dem Emotion-Transmitter und dem Dance-Muscle-Booster kam sie heute nicht mehr, da Marie-Sophie sie rechtzeitig unterbrach:

 

Wenn wir 2025 geahnt hätten, wie krass die KI alles cool und fake und artificial machen würde.
Damals huldigten wir nostalgisch dem ‚echten‘ Tango der Vierziger Jahre und die DJs versuchten, sich mit den besten Restaurationen zu übertreffen.
Und dann, fünf Jahre später, spuckte einem die KI knisterfreie, perfekte Tangos, Valses und Milongas mit Wunschtext, im Wunschtempo, im Stil des Wunschorchesters aus, und mit Harmonien und Melodielinien, die noch viel herzzerreißender waren als jede Gardel-Schmonzette oder Pugliese-Schnulze.
Eigentlich liebte ich das.
Endlich neue, gute, perfekt tanzbare Musik, nachdem die DJs jahrzehntelang immer die paarhundert selben Songs gespielt hatten.


Das war eine wirklich geile Zeit, wir tanzten alle so gut, alle optimierten sich zu Hause mit den neuen Realtime-Instant-Response-Body-Trainern, endlich führten auch unsere deutschen Jungs so spritzig und fantasievoll wie die Italiener, endlich hatten alle eine stabile Mitte und schaukelten nicht wie Schilf im Wind. Fast jede Tanda wurde perfekt,

trauerte Anna-Luna weiter.

 

Aber als sich dann die External-Body-Movement-Controller-Anzüge so programmieren ließen, dass jeder jeden Tanzstil nach kurzem Training draufhatte, wurde es beliebig.
Plötzlich groovte Olaf wie Chicho, und weißt du noch, 2031, als alle Mädels diese Moves von der Weltmeisterin, Constanza hieß sie, zelebrierten.

 

Marie-Sophie ergänzte voller Nostalgie:


Das war ja alles noch vor den Avataren. Die waren wirklich der Game-Changer.

Als meine Füße noch konnten, tanzte ich eigentlich gerne mit ihnen. Sie schwitzen nicht, stinken nicht, der Small-Talk ist unterhaltsam und nie peinlich, da von der KI political-correctness controlled. Und die Führung ist immer sicher.
Mit dem Human-Body-Emulator und seinen Booster-Möglichkeiten spürt man heute natürlich viel mehr, wenn alles mal richtig eingestellt ist.

 

Anna-Luna entfuhr ein tiefes Lachen, wovon sich auch ein Schatten in ihrem fast faltenfreien Gesicht niederließ:

 

Sorry, ich musste gerade daran danken, wie ich, ganz am Anfang, einmal aus Langeweile mit mir selbst tanzte.
Ich sag dir, die emotionale Feedback-Schleife war krasser, als jede Jimi-Hendrix-Gitarren-Rückkopplung, Tage danach zitterte ich noch ...


Im Ballroom endete die Tanda.
Der Body-Controller meldete gute Werte. Anna-Luna war bereit für den nächsten Tangasmus.

Schnell koppelte sie sich wieder mit ihrem Avater und reaktivierte den Cabeceo-Mode.
Der muskulöse, dunkle Typ in der Ecke sah scharf und vielversprechend aus. Aber irgendwie spürte sie, dass er ihren Ex verkörperte, den sie vorher links hinten im Backroom wahrgenommen hatte. Auf seine Vibes hatte sie heute keine Lust – und höchstwahrscheinlich hatte er sich wieder eine schnell anschwellende Männlichkeit gepromptet.

Und den rassigen Pseudo-Argentinier-Avatar hatte sich, so vermutete sie, der luschige Luka designt. Sie spürte seine begehrlichen Blicke auf ihrem knapp gekleideten Avatar. Ihr Prompt war doch gut gewählt. Und eine Tanda mit ihm war besser, als die Option, ihren Avatar eine gespeicherte Tanda noch einmal abspielen zu lassen.

Nachdem sich die beiden Avatare embraced hatten, drehte Anna-Luna die Response-Rate voll auf und genoss, wie sie dank der Hormon-Balance in ihrem Körper mit jedem Ocho ihres Avatars emotional weiter in den Argentinier hineinfloss. Sie hatte heute nicht mehr damit gerechnet, aber von dieser Tanda würde sie noch lange zehren. Luka, der an der Bar stand, sandte ihr ein vielsagendes Lächeln zu.

Mit viel Mühe gelang es ihr, einen ihrer gebotoxten Mundwinkel zu heben.

 

 




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