Reine MagieLa Locura – Zehn Live-Orchester an einem Wochenende(2019/aktualisiert 2022) Denn die musikalische Wucht war ein nicht endender
Genuss. Ein ganz entscheidender Faktor hierfür war der
Veranstaltungsort: Das erst im letzten Herbst neu
eröffnete Haus der Musik verzauberte alle Anwesenden mit
in warmen Holztönen gestalteter, moderner, großzügiger
Architektur, einem äußerst freundlichem Personal und einem
wunderbaren Tanzparkett. Harte körperliche ArbeitImmer noch die Tastatur des fantastischen, über fünf
Meter langen Konzertflügels im Auge, kommt mir Orlando
Goñi, legendärer Pianist von Aníbal Troilo, in den Sinn.
Sein Spitzname war ‚El Pulpo‘, der Tintenfisch, denn seine
langen Arme waren ständig scheinbar überall gleichzeitig
auf der doch recht breiten Klaviertastatur unterwegs. Und
das zeigt dieses Wochenende, bei dem man den Musikern die
ganze Zeit auf die Finger schauen kann: Tangomusik ist harte, körperliche Arbeit. Nur mit extremen Crescendi, durch fast schon brutale, perkussive Spielweise, durch wuchtige Akzentuierung kann das fehlende Schlagzeug ersetzt werden, entsteht der typische Tangosound, der die Tanzenden in das Reich der Tangomagie entführt. ‚Tango Spleen‘ beherrschen dieses Wuchtige. Aber genauso beherrschen sie die leisen Töne, das
Romantische, das Verspielte, das Lustige, bieten eine
breite Auswahl an Stücken, die weit über das auf Milongas
Übliche hinausgeht und von den Tanzenden verlangt, sich
auf die Musik wirklich einzulassen. Und das ist eines der magischen Elemente dieses Festivals: Die Tanzfläche, die noch einen Tick größer hätte sein können, ist fast immer prall gefüllt. Die vielen guten, sehr solide tanzenden Gäste, unter denen sich erfreulicherweise keine selbsternannten Startänzer oder effekthaschenden Superstars finden, folgen mit großer Konzentration den immer tanzbaren, aber oft ungewohnt interpretierten oder auch unbekannten Titeln. Diese energetische Verbindung zwischen Bühne und Saal, die sich rasch nach dem wunderbaren Einstieg von ‚Tango Spleen‘ aufbaut, reißt über die ganzen drei Tage hinweg nicht mehr ab. Vor der Bühne, auf sechs bestuhlten Reihen, sind gleichzeitig knapp hundert Gäste der Musik so erlegen, dass sie lieber konzentriert schauen und lauschen – oder zeichnen, wie Marion von Oppeln, die durch Zufall fast immer mit ihrem Zeichenblock neben mir sitzt |
Skizzen von Marion von Oppeln, die meist neben mir saß. ![]() ![]() ![]() |
Bühne vor fantastischer Kulisse
Weil die weitläufige Bühne vor der gigantischen Glaswand
platziert ist, über die der Saal sich optisch mit der
Innsbrucker Altstadt verbindet, wandern die Blicke der
gebannt Zuhörenden immer wieder von den Instrumenten weg
zur auf der anderen Straßenseite liegenden historischen
Hofburg, dem ehemaligen Regierungssitz der Habsburger,
oder gleich hinauf zu den ebenso beeindruckenden, über
2.000 Meter hohen, steil aufragenden und noch verschneiten
Berggipfeln, die sich unmittelbar hinter der Stadtgrenze
der Hauptstadt Tirols auftürmen.
Orlando Goñi, ‚El Pulpo‘ und seine unzähligen
Musikerfreunde aus der Goldenen Zeit des Tango, so sie
hier anwesend wären, würden mit Ehrfurcht und großer
Freude den wunderbaren musikalischen Linien, den
Abwandlungen, Neuinterpretationen der von ihnen vor knapp
70 Jahren zur Vollendung gebrachten musikalischen
Tradition lauschen. Und sie würden über die Vielfältigkeit
und Breite staunen, mit der sich ihr Tango hier
präsentiert. Denn das ist der nächste magische Baustein.
Zehn ganz unterschiedliche Combos, zehn ganz
unterschiedliche Sets bat Joachim jeweils mit knappen,
sympathisch-tiefgründig gewählten Worten auf die breite
Bühne.
Große musikalische Bandbreite
Am ehesten würden sich die alten Meister sicher mit den extrem professionell und routiniert dargebotenen kraftvoll-rhythmischen Nummern von ‚Solo-Tango‘ mit dem umwerfend wuchtig-authentischen Sänger Chino W. Laborde identifizieren. Aber auch das ‚Sexteto Cristal‘, eher kammermusikalisch orientiert, sowie das ‚Quinteto Beltango‘, das den Samstagabend mit einem ersten, sehr rhythmischen, sowie mit einem zweiten, romantischen Set gestaltete, spielen nahe an den klassischen Arrangements, während ‚El Cachivache‘ wie gewohnt den alten Stücken eine rockig-rhythmische Note verpasst. ‚Los Milonguitas‘, ‚El Muro Tango‘ und ‚Tango Spleen‘ berühren das Publikum mit ihrem sehr emotionalen, feinfühligen Zusammenspiel; sie fordern die Kreativität und Offenheit der Tanzenden mit ihrer großen Musikalität, ohne den Bereich des Tanzbaren zu verlassen. Staunen, wohin sich der Tango entwickelt hat, würden
D’Arienzo und Co. bei den übrigen drei Combos, die auf
jeweils eigene Art Tango weiterdenken: ‚Otros Aires‘, die in den Nullerjahren zusammen mit
‚Gotan Project‘ den Electro-Tango erfanden, beglückten
Fans des Tango Nuevo, während bei dem mittlerweile
verstorbenen Daniel Melingo, dem charismatischen
Grenzgänger zwischen Jazz, Blues und Tango, viele vorn an
der Bühne andächtig lauschend Platz nahmen und so ihren
Füßen eine kleine Pause gönnten. Zum Abschluss, als perfektes Finale dieser einmaligen
Tango-Band-Party, hatte Joachim das junge Ensemble ‚Amores
Tango‘ eingeplant und damit einen Glücksgriff getan, denn
die Unermüdlichen unter den rund 400 Festival-Gästen, die
am Sonntagabend noch anwesend waren, tanzten und tobten
ausgelassen eher abseits der üblichen Tangobahnen zu den
Tango-Latin-Crossover-Titeln dieser jungen Band.
Perfekter Sound
Genauso wie ich und viele andere Gäste würden die alten Meister der Época de Oro sicherlich fassungslos und voller Anbetung vor den riesigen Lautsprechern in die Knie gehen. Denn ein weiteres magisches Element war die absolut perfekte Ton- und Lichttechnik, die die Veranstalter sich und den anwesenden Gästen für viele tausend Euro gegönnt hatten – genau passend zu diesem neuen Konzertsaal mit seiner warmen Akustik, passend zu dem beeindruckenden Konzertflügel und natürlich gerade angemessen für die Menschen hinter den Instrumenten und Mikrophonen, die oft genug unter den mageren Möglichkeiten vieler Veranstaltungsräume leiden, in denen sie sonst so auftreten. Viele von ihnen betonten im Nachhinein, dass sie noch nie so perfekte Bedingungen vorgefunden hatten. Ein Encuentro für MusikerïnnenDenn nicht nur die Gäste erlebten hier im Zentrum
Innsbrucks etwas Einmaliges, auch die rund 50 Musikerinnen
und Musiker, die sonst immer alleine mit ihren Bands auf
Tour sind, genossen es, sich gegenseitig zu inspirieren,
die vielen Wege der Tangomusik hautnah zu erfahren oder
sich im bewusst sehr großzügig und angenehm
gestalteten Backstage-Bereich auszutauschen oder
miteinander zu improvisieren, sodass einige mit den
neugewonnenen Freunden am nächsten Tag spontan auf die
Bühne sprangen. Der Direktor des Hauses der Musik, dem die Welt des Tango
bisher nicht geläufig war, ließ sich nahezu das ganze
Wochenende in den Bann der Bands ziehen und zog als Fazit,
dass er noch nie so viele glückliche Menschen bei einem
Festival erlebt hatte. Und das ist sicher auch der Grund,
warum Joachim, der das Veranstalten von Live-Events als
leidenschaftliches Hobby betreibt, und das Team von La
Locura sich 2020 erneut in dieses extrem zeit-, aber auch
geldaufwändige Abenteuer stürzen werden. Nach Corona-bedingter Pause fand das Festival im Herbst
2021 erneut als rauschendes Fest statt, die nächste Runde
ist im Mai 2022.
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