Orquesta Típica Francisco Canaro(2022) Francisco Canaro(26.11.1888 - 14.12.1964) Spitzname:Pirincho, El Kaiser Status:Tango-Unternehmer, Tausendsassa Aufnahmen:über 3.700 Stil:anpassungsfähiger, verspielter Traditionalist Merkmale:klares rhythmisches Fundament, Klarinette und Trompete |
![]() Eine schöne Diskographie bietet La Milonga di Alvin. |
Spezialität:König der Milongas, kitschige Valses, Hits in vielen
Jahrzehnten |
Wichtige Sänger:- Charlo, der 'zweite Gardel' (1929-1932) |
Größter Hit:Poema (1935) |
Bedeutende Musiker:- Minotto Di Cicco (Bandoneon) |
- Vom Tellerwäscher zum Tangounternehmer
- In der großen weitern Welt: Paris, New York, Tourneen
- Ein Alleskönner? Musik, Theater, Revuen, Filme
- Das Quinteto Don Pancho / Pirincho
Die Musik
- Frauenstimmen: Nelly Omar und Tito Morello
- Valses
Musik als Rettungsanker
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Die Canaros, eine vielköpfige Emigranten-Familie mit italienischen Wurzeln, lebten in Buenos Aires in größter Armut und Enge im Milieu der berüchtigten Conventillos.
Die Behausungen der armen Leute lagen in der Regel im Süden der Stadt und gruppierten sich meist um Innenhöfe. Hier wurde gelebt, gearbeitet, gekocht und gefeiert. Die Porteños musizierten und tanzten zur Musik ihrer Heimat, die Stile vermischten sich, die ersten Tangos entstanden im ausgehenden 19. Jahrhundert.
Es wundert nicht, dass die Familie in dieser Enge auch von
einem heftigen Pocken-Ausbruch heimgesucht wurde, an dem
eine der Schwestern tragischerweise verstarb. Canaro
betont in seiner Autobiographie, dass er keine Kindheit
hatte. Diese harten Jahre erklären die Zähigkeit, Ausdauer
und Durchstzungsfähigkeit, die Canaro zum Kaiser
machten. |
Die Canaros hatten drei Mädchen, neben Francisco endeten von den insgesamt sieben
Brüdern Mario, Juan, Rafael und Humberto als
Tango-Musiker.
Francisco arbeitete, wie seine Brüder, schon in jungen
Jahren hart, z. B. als Zeitungsjunge oder Anstreicher,
aber auch in einer Fabrik für Blechdosen.
Transportable Instrumente wie Flöte, Gitarre, Geige,
Mandoline und einfache Formen des Bandoneons wie die
Concertina erklangen nach 1900 in den Arrabales, d.h. den
Vororten, der rasant wachsenden Stadt. Canaro lernte von
einem italienischen Schuhputzer Gitarre spielen.
Als Gelegenheitsmusiker hatte er erste Auftritte in der Nachbarschaft, wechselte später zur Geige, die ihn schon immer fasziniert hatte. Sein erster Tango war angeblich El Llorrón.
Er gründete ein Trio, zog von Dorf zu Dorf, von Ballsaal zu Bordell. Es war eine harte Schule, wurden die Musiker doch oft nach der Anzahl der Tänzer bezahlt, die sie aufs Parkett lockten. Liebschaften, Streitereien mit den lokalen Platzhirschen und auch Schießerein waren Teil dieser ersten wilden Jahre kurz nach 1900. |
Im Zentrum des TangoIn La Boca, dem Hafen- und Vergnügungsviertel im Süden
der Stadt, erspielten sich Canaro und sein Trio 1908 ein
erstes Engagement im angesehen Café Royal. In diesem
Viertel mischten sich die vorwiegend italienischen
Einwander mit Einheimischen, die vom Land kamen und ihr
Glück in der sich entwicklenden Großstadt suchten.
Hier finden wir den kulturellen Schmelztigel, in dem die neue Musik Tango entstand.
In seiner Autobiographie, die 1956 erschien, beschreibt er diese Zeit, und so manches erinnert an den Wilden Westen. Das Trio spielte eingequetscht auf einem winzigen Balkon. Schlägereien und Schießereien gehörten damals in La Boca noch zur Tages- bzw. Nachtordnung, sodass Besitzer der "Bars" das Musiker-Balkönchen von unten mit Blech gegen durchschlagende Kugeln schützten.
Der Einwanderersohn war auf jeden Fall im Herzen des Tango angekommen und prägte fortan den Pulsschlag der neuen Musik entscheidend mit.
Die musikalischen Helden der Zeit, gemeinhin als Guardia Vieja bezeichnet, waren Ángel Villoldo, Roberto Firpo, mit dem Canaro spät abends in der Tranvía den Heimweg teilte, sowie Vincente Greco, in dessen Sextett Canaro 1910 spielte, nachdem sein Trio sich aufgelöst hatte. Tango hatte 1910 an Beliebtheit gewonnen, sodass die Szene von La Boca ins Zentrum der Stadt ziehen konnte und dort die Aufmerksamkeit von Musik-Produzenten erregte. Als Greco und Canaro 1910 die ersten Aufnahmen mit ihrem "Tango"-Orchester machten, nannten sie sich 'Orquesta Típica Criolla', um sich von anderen Genres zu unterscheiden, woraus sich die bis heute gängige Bezeichnung für ein Tango-Orchester, Orquesta Tipica, ableitete. |
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1914 hatte Canaro sich so weit etabliert, dass er mit seiner eigenen Combo auf dem bekannten Medizinerball Baile del internado im berühmten Palais de Glace auftreten durfte, für den er im nächsten Jahr den Klassiker El Internado komponierte. Für die Karnevalsaisons 1917 und 1918 stellte er mit Roberto Firpo ein 15-köpfiges All-Star-Orchester auf die Beine, die fehlenden Verstärkungsmöglichkeiten verlangten große Combos. Das Repertoire soll über 200 Stücke umfasst haben!
Die beiden Platzhirsche der Jahre waren Canaro und Firpo, 1918 gelang es Canaro zwar, seinem musikalischen Rivalen Firpo Paroli zu bieten, indem er mehrere seiner Auftrittsorte kaperte, sodass Ende 1918 vier Orchester, z. T. von den Brüdern geleitet, unter seinem Namen in Buenos Aires spielten, was einer der Gründe für seinen Spitznamen El Kaiser ist. Andererseits musste Canaro, nachdem er 1921 beim Label Odeon mit Aufnahmen startete, für jede verkaufte Schellack einige Cent an Firpo abführen, weil dieser bei Odeon einen Orquesta Típica-Exklusiv-Vertrag hatte.
Nachdem der Tango 1913 Paris erobert hatte, tanzte auch die gehobenere Gesellschaft in Buenos Aires in enger Umarmung. Francisco nutzte 1920 seine Chance und war für einige Monate das bei der Aristokratie angesagte Orchester. Mitte der Zwanziger füllten De Caro und Fresedo diese Rolle sehr viel besser aus als das Arbeiterkind Canaro. |
Canaro prägt das Bild des Tango argentino in Europa
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Scheitern in der FilmindustrieAuch die Kinos wollte er mit einer eigenen
Produktionsfirma erobern, Zwar war der erste Versuch ein
großer Erfolg, die weiteren Projekte kamen beim Publikum
aber nicht mehr richtig an und erwiesen sich vor allem
finanziell als Flop, sodass Canaro deswegen 1938 bankrott
ging.
SADAICDer Geschäftsmann Canaro setzte sich zudem, wenn auch
nicht uneigennützig, für die Rechte der Künstler ein. Nach
jahrzehntelanger Vorarbeit gelang ihm 1941 die Gründung
der SADIAC, des argentinischen Pendants zur GEMA. Fun
fact: Als 1933 ein erstes Vorläufer-Gesetz vom Kongress
verabschiedet worden war, schmissen viele der beteiligten
Musiker eine gigantische Party im Teatro Colón mit
unter anderem 70 Bandoneons, 80 Geigen und 20 Sängern.
Wohlklang fehlte wahrscheinlich ....
Der InnovatorImmer auf der Suche nach Neuem bereicherte Francisco die
musikalische Welt in den 20er- und 30er-Jahren.
Mit der Seria Sinfónica leitete er zusammen mit Fresedo und De Caro den Trend ein hin zu aufwändiger, etwas mutiger, zum Teil experimenteller, auf jeden Fall arrangierter Musik.
Er bereicherte Ende der 20er-Jahre die bis dahin instrumental gespielten Tangos um dem Estribillista (Refrain-Sänger), später setzte er als erster eine Sängerin sowie ein Gesangsduo ein.
1933 überrasche er die Tänzer mit einer von einem richtigen Tango-Orchester gespielten Milonga, die heute noch berühmte Milonga Sentimental (1933) und begründete damit ein ganz neues Genre.
Klarinettentöne und der Sound des Cornetino, einer kleinen Trompete, schufen das für Canaro typische klare, helle und fröhliche Klangbild, der Griff zur Orgel in den 40ern, als Mariano Mores die meisten Stücke arrangierte, überzeugt dagegen weit weniger, manches klingt dann doch nach Jahrmarktmusik.
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Canaro verliert den Anschlussdenn: D'Arienzo gibt Gas1937 startet D'Arienzo endgültig mit seinen rhythmischen,
quirligen Up-Beat-Interpretationen mit ganz neuer Energie
durch. Exemplarisch steht dafür die Tango-Komposition La
Puñalada, die D'Arienzos Pianist Biagi zur
treibenden Milonga und damit zum Hit der Saison
umgestaltet, die Schellack-Verkäufe schossen in den
Himmel, während Canaros Interpretation desselben Titels als Tango blass bleibt.
und: Troilo und Laurenz werden komplex Gleichzeitig machen sich die Orchester von Troilo,
Laurenz und Pugliese auf zur Komplexität der Vierziger.
Emblematisch steht hierfür Laurenz Einspielung von Arrabal
(1937).
Canaro passt sich zwar teilweise an, erreicht aber nicht
die subtile Qualität der Stars dieser Jahre. Die
Verkaufszahlen sprechen weiter für ihn. Seine Tangos sind
eingängig, nett, abwechslungsreich und treffen so den
Geschmack vieler. Man darf ja auch nicht übersehen, dass
auch Familien-Tango-Pop-Star De Angelis in den Vierzigern
durchgängig zu den erfolgreichsten Orchestern zählte.
Die große Experimentier- und Spielfreude Canaros hört man sehr schön in Qué es lo que tiene la Bahiania (1939), einem ursprünglich brasilianischen Song, den er adaptierte. Cornetino, Klarinetten- und Bandoneon-Klänge prägen die ersten, leisen Takte, ein fröhlich phrasierter Beat lockt den Tänzer in das abwechslungsreiche Arrangement des Hauptteils, in dem Instrumentierung und Rhythmisierung ständig wechseln. Als Sahnehäubchen werden noch Choreinwürfe übergestülpt. Die Darbietung ist frisch, abwechslungsreich, der Phrasierung fehlt aber das Subtile. Typisch Canaro eben. |