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Orquesta Típica Florindo Sassone

Der zweite Di Sarli

Florindo Sassone

*12.01.1912 +31.01.1982

 

Status

Tango ist eine Symphonie

Aufnahmen:

rund 258

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Für die Tangos um 1950: Archivo RCA: Florindo Sassone Vol. 1 und Vol. 2

Für die Tangos um 1960 mit viele Geige und Schmalz: Florindo Sassone - Bien milonguero 01 und 02

Lagrimas - 19?? - Instrumental


Diskografie

z.B. auf der grandiosen Seite von www.el-recodo.com

 

Stil

elegant, wuchtig, von Geigen dominiert

Merkmale

Crescendi, Harfe, Vibraphon, Glasorgel

Größte Hits

Volver (1947), Pescadores de Perlas (1971)

Wichtigste Sänger

- Jorge Casal

- Roberto Chanel

- Rodolfo Galé

- Oscar Macri

Wichtigste Musiker

- Piano/Arrangement:
Jorge Dragone, Osvaldo Requena

- Geige: Roberto Guisado (1. Geige Di Sarlis), Mario Abramovich (Gründer des Sexteto Mayor)

- Bandoneon: Pascual Mamone, Ángel Domínguez, Julián Plaza, José Libertella(Gründer des Sexteto Mayor)

 

Poema von Francisco Canaro ging vor über einer Dekade als romantischer Superhit viral. Kurz darauf musste Canaros Invierno in der Playlist hipper DJs landen, bis schließlich Merceditas vom Orquesta Símbolo Osmar Maderna zur seelenschmelzenden Geheimwaffe wurde. Kurz vor der Pandemie begann die Meute schließlich, wollte sie romantisch schwelgen, nach Sassones Pescadores de Perlas zu brüllen. Wer ist dieser Sassone, was macht seine Musik besonders?

Die erste und oft einzige Begegnung mit seiner Musik sind in der Regel von Streichern geprägte wuchtige Aufnahmen der großen Di Sarli-Hits, die Sassone, für manche etwas befremdlich, mit Harfe, Vibraphon und Schlagzeug noch zusätzlich und manchmal auch etwas reichlich instrumentiert.

Doch Sassone hat mehr zu bieten. Und auch wenn er nicht zu den Top Ten der großen Orchester des Tango Argentino zählt, stand er in den 50 Jahren seiner Karriere in der Publikumsgunst immer mal wieder ganz oben.

 

Wie alles anfing

Als Sohn italienischer Eltern aus dem Piémont wuchs er im Barrio Liniers von Buenos Aires auf, begeisterte sich früh für Musik, lernte ab dem 8. Lebensjahr Geige und Harmonielehre, sodass er mit 18 Jahren als ausgebildeter Musiklehrer galt.

Noch im selben Jahr, 1930, tauchte er im Zentrum, das er mit der neuen Tranvía (= Straßenbahn) gut erreichen konnte, in das musikalische Tango(-nacht-)leben ein. Nach einem Jahr bei Antonio Polito spielte er bei Firpo, bis Osvaldo Fresedo 1932 von seinem Talent so überzeugt war, dass er Sassone in die Reihe seiner Geigen aufnahm.

Sassone wurde von der eleganten, feinen Art, wie Fresedo Tango behandelte, dauerhaft geprägt. Im Januar 1936 debütierte Sassone schließlich mit einem eigenen Sextett.

Mit dem Sänger Alberto Amor als Frontmann, der seine größten Erfolge mit Biagi feierte, hatte sich Sassone einen Sendeplatz bei Radio Belgrano gesichert. Dies war der erste Schritt für eine sichere Existenz, ins Aufnahmestudio schaffte er es aber noch nicht. Er selbst legte von nun an die Geige zur Seite und beschränkte sich aufs Dirigieren und Organisieren, experimentierte wie Fresedo mit Harfe und Schlagzeug, erhielt einen täglichen Mittags-Sendeplatz beim anderen großen Radiosender, El Mundo, und trat im Zentrum in der Calle Corrientes sowohl im Cabaret Marabú als auch im Café Nacional, genannt La Catedral del Tango, auf.

Doch dann, zwischen 1940 und 1946, also gerade in den Jahren, in denen die anderen Orchester ihre größten Juwelen einspielten, widmete er sich Tätigkeiten außerhalb der Tangowelt, wovon allerdings nichts bekannt ist.

Florindo Sassone war Jahrzente mit seiner Frau María verheiratet, machte bis 1979 Aufnahmen und verstarb mit erst 70 Jahren am 31. Januar 1982. Nur wenige Tangos stammen aus seiner Feder, die bekanntesten sind die Milonga Baldosa Floja und El Relámpago.

Starke Jahre mit Jorge Casal, dem neuen Gardel

Immer mal wieder, wenn ich mein Tango-Archiv im Shuffle-Modus laufen lasse, stutze ich, scheint doch Gardel hier zu Orchestermusik der Fünfziger Jahre zu singen. Des Rätsels Lösung ist natürlich Florindo Sassone.

1946 triumphierte Sassone nach langjähriger Abwesenheit wieder in der Tangoszene von Buenos Aires. Und das, obwohl die Musik sich in den letzten Jahren deutlich weiterentwickelt hatte. Die großen Orchester brillierten mit anspruchsvoller, komplexer Musik, die Sänger standen immer mehr im Mittelunkt des Publikumsinteresses wie auch der Arrangements, insgesamt richtete sich die generell ruhiger und langsamer gespielte Musik weniger an Tanzende. Sassone spielte von Anbeginn seiner zweiten Phase beeindruckend mit.

Ihm war es gelungen, starke Musiker um sich zu gruppieren. Sein größter Trumpf jedoch war Jorge Casal, ein junger Sänger, dessen Stimme und Art des Intonierens Carlos Gardel, dem Unerreichten, tatsächlich sehr nahe kommen.

Gardel selbst vermied es ja zeitlebens mit Orchester oder für Tänzer zu singen, sieht man von wenigen Ausnahmen ab. Und man tanzt eigentlich nicht zu Gardel. Aber der Paarung Sassone/Casal gelingt es in den Jahren zwischen 1947 und 1949, die emotionale Kraft von Gardels großen Hits wie Volver oder Rencor mit einer durchaus filigran arrangierten Orchesterbegleitung zu kombinieren, die Rhythmus und Melodie fein ausbalanciert.

Stilistisch variiert diese Musik zwischen dem Sound Di Sarlis der früheren 40er und den anspruchsvollen Stilen der späten 40er von Troilo oder Francini-Pontier. Die für Sassone typischen Instrumente Harfe und Glasorgel finden in dieser früheren Phase regelmäßig, aber dezent und unaufdringlich ihren Platz. Gleichzeitig hört man in den wenigen Instrumentalen der Zeit wie Don Esteban (1948) oder den starken El Relámpago oder La Trilla (1951), dass Sassone schon in diesen früheren Aufnahmen seiner Schaffenszeit eine Mischung aus Di Sarli und Fresedo verfolgte.

Volver - Jorge Casal - 1947

Rencor - Jorge Casal - 1949

La Trilla - Instrumental - 1951

Neben der außergewöhnlichen Stimme Casals, mit der Sassone vor allem viele Gardel-Hits aufnahm wie El dia que me quieras, Al la luz de un candil oder Mi noche triste, die nicht zum Tanzen, sondern als Tango canción arrangiert wurden, gewann Sassone den zwar stimmlich eigenen, musikalisch aber zu den ganz großen zählenden Roberto Chanel, der von 1943 – 1948 dem Orchester von San Osvaldo Pugliese seinen näselnden Stempel aufgedrückt hatte.

Weitere wichtige Stimmen in den 50ern waren Carlos Malbran, Raúl Lavalle, der mehr zum Opernhaften neigt, oder Roberto Galé, der sich lange nicht so überzeugend wie Jorge Casal an Gardel-Hits wie Adiós muchachos versuchte. Die Milongas des Orchesters, wie die durchaus überzeugende Vieja postal, sind, wie in den Fünfziger Jahren üblich, sehr schwungvoll, etwas zu schnell, rhythmisch etwas eintönig und durch den sehr frei phrasierten Gesang zwar musikalisch nett, für Tanzende aber nicht so reizvoll.

Mi noche triste - Jorge Casal - 1949

Adios muchachos - Rodolfo Galé - 1952

Vieja postal - Rodolfo Galé - 1952

Sassones Musik hat große Klasse, er fand seinen eigenen Stil. Doch er bediente auch ohne Bedenken den Geschmack der Masse, scheute nicht das Schlagerhafte. Seine Hymne Bocca Juniors besingt den großen Fußballclub am Rio de la Plata. Der klischeebeladene, kitschige Tango Mambo, feiert etwas plump die Bedeutung des Genre Tango als nationales Kulturgut.

Warum tanzen wir quasi nie zu dieser Musik? Bisher sind die Aufnahmen noch nicht in wirklich überzeugender Qualität transferiert. Hoffentlich nehmen sich Tangotunes oder TangoTimeTravel ihrer bald an. Außerdem kann ein DJ nur eine beschränkte Anzahl rhythmisch freierer bzw. ruhiger Tandas spielen. Und Pugliese, später Troilo, Francini-Pontier, Laurenz, Demare und viele andere, die in diesem Bereich als Alternative darauf warten, in die Playlisten geschoben zu werden, sind halt auch verdammt gut.

Nach einer etwas ruhigeren Phase zwischen 1952 und 1959 wechselte Sassone vom Label RCA Victor zu Odeon und füllte nun sehr überzeugend die Lücke, die der kurz zuvor verstorbene Carlos di Sarli hinterlassen hatte.

Bocca Juniors - 1950 - Chanel

Mambo - Roberto Chanel - 1952

Der späte Sassone

Schon frühe instrumentale Tangos wie Sassones Komposition El Relámpago (1951) oder El Chamuyo (1951) folgen ganz klar der Di Sarli-Schule. Sie leben von dynamisch und meist unisono gespielten Melodiewellen der Streicher, denen ein dynamisches Klavier, das sich zwar an Di Sarli orientiert, nicht aber dessen Klasse erreicht, Leben einhaucht und dabei auch von den Instrumental-Exoten Harfe und manchmal auch Glasorgel oder Vibraphon unterstützt wird.

Sassone hatte Anfang der 60er-Jahre eine starke Truppe, darunter der großartige Pianist und Arrangeur Osvaldo Requena oder Di Sarlis Ausnahme-Geiger Roberto Guisado. Über einem stabilen rhythmischen Streicher-Fundament entfalten sich brachiale Orchester-Crescendi von Instrumentengruppen oder auch von einzelnen Instrumenten wie Harfe oder Klavier, von ganz leise nach ganz laut, von den ganz tiefen zu den ganz hohen Tönen. Das war publikumswirksam. Und so musste sich Sassone immer wieder dem Vorwurf stellen, dass er sich zu sehr am Geschmack der Masse orientieren würde. Manches wirkt dabei frischer als das Vorbild Di Sarli, was auch daran liegt, dass Sassone den Bandoneons, aber auch kleinen Geigensoli mehr Platz lässt.

El Relampago - Instrumental - 1951

Sassones Musik der 60er- und 70er-Jahre ist von eigener Qualität, löst aber nicht bei jedem Begeisterung aus. Den Klang dominieren weiterhin mächtige Melodiewellen der Streicher über im Grundsatz einfacheren rhythmischen Grundmustern, die aber variantenreich durch Streicher-Pizzicato, Harfenläufe, Klavierakzente, massive Crescendi usw. gestaltet werden.

Vor allem zwischen 1959 und 1962 wirken die Arrangements durch aufdringliche Klangeffekte von Vibraphon, Glasorgel, Harfe und Schlagzeug teilweise überorchestriert. Fast schon penetrant beginnen in diesen Jahren viele Stücke mit einem Doppelschlag der Glasorgel, wie ein Gong, der den Beginn einer Meditationsstunde ankündigt. Vieles ist richtig gut, tanzbar, harmonisch anspruchsvoll und trotz des etwas trägen Rhythmus voller Energie.

Gleichzeitig unterscheiden sich viele Aufnahmen dieser Zeit kaum von einander. Man hört eigentlich nicht bestimmte Titel, sondern den Sassone-Sound. Neben den Sängern Fontán Luna, Andrés Peyró sowie über Jahrzehnte Oscar Macri hören wir Anfang der 60er Jahre auch die Stimme von Osvaldo di Santi, den wir vor allem unter seinem Künstlernamen Osvaldo Ramos als wichtigsten Sänger von Juan D’Arienzo seit Mitte der 60er kennen.

In der sehr produktiven Phase zwischen August 1965 und 1968 entstehen schließlich mehrere LPs mit insgesamt 54 Tangos, darunter große Klassiker wie Don Juan, El Amenecer, A la gran muñeca, Sentimiento gaucho oder La tablada. Die Doppel-CD Bien milonguero versammelt diese Titel.

In einer Zeit, als weniger getanzt wurde und viele Orchester sich schon längst aufgelöst oder verkleinert hatten, gelang es Sassone, am Ball zu bleiben. Ab 1960 fungierte er als Hausorchester des Fernsehsenders Kanal 7 und füllte dafür seine Reihen mit weiteren Streichern. Ähnlich wie Mariano Mores, Leopoldo Federico oder der späte Fulvio Salamanca strebte Sassone teilweise einen Klang an, der an ein klassisches Symphonie-Orchester erinnert, das jetzt eben Tangos spielt. Über 40 Musiker fanden sich dafür teilweise auf der Bühne zusammen.

El Amanecer - Instrumental - 1966

Don Juan - Instrumental

Cascabelito - Oscar Macri - 1970

Das Sextett

Gleichzeitig bediente Sassone den Markt mit einem Sextet unter dem Namen Don Florindo. Er beschritt damit einen ähnlichen Weg wie Firpo mit seinem Quartett in den 40er-Jahren oder Canaro mit dem Quinteto Pirincho. Ein schnelleres Tempo (67 bis 70 bpm statt der bei Sassone und Di Sarli üblichen 58-60), bescheidenere Arrangements mit den wenigen Instrumenten sowie das Repertoire der Guardia Vieja prägen den Sound, der aber immer noch an Sassone erinnert.

Diese Musik sprüht vor Rhythmus und Energie, es entstand abwechslungsreiche, elegante instrumentale Tanzmusik, die aktuell leider am Markt nicht erhältlich ist. Zumindest La cumparsita und 9 de julio finden sich auf Youtube.

Auf Tournee

Mit diesem Sextett erweitert durch weitere Musiker bereiste Sassone 1966 auch das tangoverrückte Japan zusammen mit Di Sarlis ehemaligem Sänger Mario Bustos. Während in Argentinien die Tango-Begeisterung schon recht lau war, musste die Konzertreise durch die großen Städte Japans wegen der großen Begeisterung um zahlreiche Konzerte verlängert werden, er blieb über ein halbes Jahr und trat dort sogar im Fernsehen auf. Auch zu Beginn der 70er unternahm er erneut eine erfolgreiche Tour durch Japan sowie durch mehrere Länder Südamerikas wie Kolumbien, Venezuela, Paraguay und Brasilien, wo er überall eine große Anhängerschaft hatte. Der Höhepunkt dieser Jahre war aber, wie er selbst betonte, der Auftritt im Teatro Colón 1972 zusammen mit den ganz Großen wie Aníbal Troilo, Roberto Goyeneche oder Astor Piazzolla. 1979 entstand eine letzte LP, 1982 verstarb Sassone, geschwächt durch seine Diabetes-Erkrankung, mit nur 70 Jahren im Haus seiner Tochter.

9 de julio - Instrumental - 1966 - Sexteto Florindo

Inspiracion - 1972
Gloria y Eduardo
TV - Japan - 1972

Im Teatro Colon 1972

Pescadores de Perlas

Und was hat es mit der Superschnulze Los Pescadores de Perlas auf sich?

Sassones Musik neigt ja zum Populären, er war am kommerziellen Erfolg orientiert. Und so wundert es nicht, dass er sich angesichts der schwindenden Popularität des Tango in Argentinien, so wie viele andere Orchester, Richtung Ausland orientierte.

Während Troilo, D’Arienzo und Co ihre bekanntesten Titel unter dem Label For Export dafür neu zusammenstellten oder auch dem Zeitgeschmack angepasst neu eingespielten, ging Sassone einen anderen Weg:

Er stülpte internationalen Hits den Sassone-Sound über. Hierzu zählten weltweit bekannte nichtargentinische Tangokompositionen wie Celos/Jalousy oder Tango Nocturno, aber auch klassisches Liedgut wie eben Bizets Komposition Los Pescadores de perlas aus der gleichnahmigen Oper oder Orquídeas a la luz le la luna, das auf Orchids In The Moonlight, einem Superhit aus dem Jahr 1933, basiert.

Bei der Aufnahmesession im Juli und August 1968 enstanden 14 Nummern, eine 1974 veröffentlichte Doppel-LP vereinte sogar 24 nach heutigem Geschmack etwas kitschige, schmalzig triefende, eher an Filmmusik orientierte Aufnahmen internationaler Hits.

Pescadores de Perlas war beide Male dabei, doch erst die spätere Version lässt Bizets wunderbare Melodielinien – und uns Tanzende – in scheinbar schwerelosen Wellen über dem schreitenden Beat schweben.

Pescadores de perlas - Instrumental 1972
Jo und Lucilla - Bregenz - 2019

Celos

Tango de las rosas

 

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