Get to know: The Tango Pioneersvon David Thomas (2022) Rezension, erschienen in TangoDanza 2024 Viele Geschichten – Kaum GeschichteSeit über 10 Jahren beschäftigt sich der britische pensionierte Geheimdienstler David Thomas intensiv mit Geschichte und Musik des Tango argentino. Sein erstes Werk, Get to know: Twenty Tango Orchestras (2015), führt den Leser zwar fundiert, aber schematisch und anekdotenlastig an die wichtigsten Orchester unserer Milongas heran. Mit den drei je knapp 200 Seiten dicken Bänden seiner 2023 erschienen Serie The Tango Pioniers wagt er sich nun, wiederrum einer eher starren Gliederung folgend, an die Ursprünge, die Genese und die frühen Jahre des Tango argentino vor 1935, also an die Zeit vor Beginn des Goldenen Zeitalters, heran. Das gelingt ihm nicht wirklich überzeugend. Der erste Band umfasst die Jahre von den Ursprüngen bis 1909. Die heißersehnte Antwort, wann, wo und wie der Tango entstanden ist, umkurvt der Autor im ersten großen Kapitel Myths, Misunderstandings & Muddles/Mythen, Missverständnisse und Wirrwarr geschickt, indem er aufbauend auf intensivem Quellenstudium kenntnisreich, präzise, nett plaudernd und manchmal auch provokant all die Mythen und Missverständnisse herausarbeitet, auf die Tangohistoriker in ihren Darstellungen regelmäßig hereinfallen: So wird in der Regel nicht zwischen Tango als Musik, als Tanz und als Dichtung differenziert. Das größte Missverständnis ist das Wort Tango selbst: Vor 1900 bezeichnete es meist nicht das, was wir heute unter Tango verstehen, sondern Tänze sowie Tanzorte der afroamerikanischen Bevölkerung, wo zu Trommeln getanzt wurde. Aber auch Varianten der Habanera, einem der wichtigsten Vorläufer des Tango, wurden mit dem Begriff Tango attribuiert. Selten ist also Tango drin, wo Tango draufsteht. Auch ein unmittelbares, afrikanisches Erbe weißt David Thomas überzeugend zurück. Denn die afroargentinische bzw. dunkelhäutige Bevölkerung Argentiniens war vor 1900 so weit assimiliert, dass sie, zurecht, als Teil des Schmelztiegels rund um den Rio de la Plata angesehen werden müssen, aber nicht als afrikanisches Herz des Tango. Und auch dem Mythos, dass die Oberschicht den Tango rundweg ablehnte, tritt der Autor mit vielen Beispielen und Geschichten entgegen: Die große Zahl gedruckter Noten, importierter Klaviere, aber auch akribisch von David Thomas ausgewertete Zeitungsberichte belegen dies. Amüsant sind die zahlreichen Seiten, auf denen er den Super-Klischees auf den Zahn fühlt: Entstand Tango in Bordellen? Nein. Er wurde nur unter anderem in Tanz-Cafes getanzt, wo auch Prostituierte verkehrten. Wurde der Tango verboten? Die Verbote richteten sich in der Regel gegen das Tanzen an sich, aber nicht gegen den Tango im speziellen. Nur Tango war ein lasziver, erotischer Tanz in enger Umarmung mit Cortes (=Stops/Pausen) und Quebradas (=Körperverbiegungen)? Nein, all dies findet sich auch bei den Tango-Vorläufern Polka oder Habanera, gleichzeitig berichten Zeitungen von sozial angesehen Tango-Tanzveranstaltungen der Oberschicht. Und auch den Mythos, dass häufig Männer mit Männern tanzten, rückt er wortreich und amüsant zu Leibe, in dem er ironisch die wenigen vorhandenen Bilder dahingehend auswertet, dass, würde man konsequent deuten, Männer vorwiegend gemeinsam im Meer getanzt hätten. (Bild) All die Geschichten machen wirklich Spaß zu lesen. Zu bemängeln ist aber, dass Davis auf ein eigenes historische Narrativ verzichtet. Denn eine Zusammenführung all der Geschichten zu einer zumindest Überblick gebenden Entstehungsgeschichte des Tango fehlt. Diese Schwäche durchzieht leider alle drei Bände: Anstatt Geschichte, anstatt Deutungen, Strukturen, Zusammenhänge, Entwicklungen präsentiert uns der Autor meist nur Geschichten, Anekdoten, Bilder und, durchaus fruchtbar, Musikbeispiele über Youtube. Statt eigenständiger Thesenbildung speist uns Davis mit kleinteiligen Faktenbergen ab, die wegen ihrer Beliebigkeit auch nicht beispielhaft zur Erkenntnisbildung beitragen. Und so stellt Davis auch im nächsten großen Kapitel mit dem Titel The Fertile Environment/ „förderliches Umfeld“ nicht die gesellschaftliche Situation und historische Entwicklung dar, sondern führt uns das fruchtbare Umfeld, in dem der Tango entstand, anhand der Großkapitel Venues/Aufführungsorte und Broadcasting/Verbreitungswege vor Augen. Auch dieses Kapitel unterhält uns Lesende mit vielen präzise recherchierten, meist zu detailverliebten Geschichten. Wir lernen Theater, Zirkusse, Etablissements, Cafes usw. in ihrer Bedeutung kennen. Das Kapitel Recordings/Tonträger ist im Verhältnis doch sehr umfangreich geraten. Auch hier gilt: Weniger Geschichten und dafür mehr Mut zur eigenen Thesenbildung und zusammenfassenden Darstellung wären doch angebracht gewesen. Im letzten Großkapitel nimmt sich der Autor die Akteure, gegliedert nach Instrumenten vor. Durch die sehr schematische Vorgehensweise geht aber der Blick auf den Wald vor lauter Bäumen völlig verloren. Gerne würde man mehr über Tendenzen und Entwicklungen lesen, anstatt mit einer Vielzahl von ein- bis zweiseitigen Einzellebensläufen konfrontiert zu werden, die man so in Tango-Handbüchern oder auf der Website www.todotango.com findet. Auch die Aufzählungen, welche frühen Tangokompositionen (z.B. El choclo) von welchen Orchestern(Canaro, D’Arienzo, Fresedo, ....) später aufgenommen wurden, die sich wie viele andere, unnötige Querverweise durch alle Bände ziehen, sind weder vollständig, noch bringen sie Erkenntnisgewinn. Eine Stärke der Bände ist in diesem den Musikern gewidmeten Kapiteln durchaus hilfreich: Davis hat auf seinem Youtube-Kanal Hörbeispiele zusammengestellt, die über QR-Codes abrufbar sind, sodass man sich sehr schnell selbst ein Urteil über die Pionierzeit des Tango machen kann, einschließlich der Erkenntnis, dass, abgesehen vom Habanera-Rhythmus, vieles aus der Pionierzeit des Tango wie bayrische Wirtshausmusik klingt. Auch Band 2, A Celebration of Tango Argentino (1910-1919), ist gegliedert wie der erste Band. Das Tanzen wird von Davis nun in einem eigenen Kapitel vor allem anhand von argentinischen, europäischen und US-amerikanischen Tanz-Anleitungen lebendig und unterhaltsam illustriert. Es verwundert allerdings, warum der Abschnitt „Dancers“, der wie gewohnt im Plauderton vorgetragene anekdotenhafte Lebensläufe und kleine Ereignisse referiert, davon getrennt im folgenden, mit 125 Seiten sehr umfangreichen Großkapitel „The Pioneers“ erscheint. Eingeflochten in die unzähligen, meist zu detailreichen Biografien der Musiker sind viele Illustrationen und teilweise spannende Geschichten, wie z.B. Probleme im Aufnahmestudio, die Davis dem Bericht eines Aufnahmeingenieurs entnimmt. Die Gliederung nach Musikinstrumenten ist allerdings kaum fruchtbar, denn viel wichtiger wären ja Stile, Bedeutung der Musiker für die Genese der Musik, Kompositionsstile usw. Geschichten statt Geschichte prägen also auch diesen Band. Der dritte Band, The precarious years/Unsichere Jahre (1920 – 1935) betont in der Introduction/Einleitung anhand von zahlreichen Beobachtungen und Zitaten, dass die Entwicklung hin zum Goldenen Zeitalter des Tango (1935-1955) keineswegs geradlinig bzw. selbstverständlich war, um sich dann wieder in mehr oder weniger unterhaltsamen Geschichten zu verlieren und an der starren Gliederung zu ersticken.
Anstatt die Genese und Bedeutung der aufblühenden Cabarets/Tanz-Hallen darzulegen, paraphrasiert Davis einen eher untypischen Zeitungsbericht.
Wichtige musikalische Zäsuren, wie die De Caro-Revolution Mitte der Zwanziger Jahre negiert er ohne Angabe von Gründen in einer Randnotiz, wichtige Entwicklungen wie den Neustart Donatos, Fresedos und vieler anderer um 1932/33 mit rhythmischer, heute noch tanzbarer Musik oder die Entstehung der tanzbaren Milonga 1933 stellt er nicht explizit heraus.
In der Einleitung seiner Trilogie schreibt Davis, dass nicht alles was man weiß, übernommen werden muss. Er hätte diesen Tipp seiner Frau beherzigen sollen!
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